Spiegelscherben

Spiegelscherben

Pia

Der Himmel war ein einziges Grau. Es regnete. Obwohl ich nur meinen schwarzen Pulli trug, war mir nicht kalt. Ich lief die Straßen entlang, immer weiter, bis ich auf den kleinen Parkplatz vor der Brücke kam. Ich ging bis zur Mitte. Unter der Brücke sah ich zu, wie die S-Bahnen und Züge fuhren. Die Leute, die an mir vorbei gingen, schauten mich komisch an, aber das war mir egal. Ich richtete meinen Blick stur nach unten. Plötzlich kamen Erinnerungen wieder hoch. Von damals, wie er mir erst geschmeichelt hatte und dann so grausam zu mir war. Ich dachte mir nur: „Jetzt nicht weinen. Nur nicht weinen. Nicht hier. Nicht jetzt.“ Ich schluckte die Erinnerungen hinunter und meine Tränen mit. Ich setze mir meine Kopfhörer auf und stellte die Musik so laut es ging. Ich musste nach Hause, mein Pullover war vollkommen nass, dass störte mich zwar nicht, aber eine Lungenentzündung wollte ich auch nicht. Und so verließ ich die Brücke, ging zum nächsten Bahnhof und fuhr nach Hause.

Abends stand ich vor dem Spiegel und sah lange mein Spiegelbild an. Ich sah mir direkt in meine eigenen Augen und verlor mich darin. Die Erinnerungen kamen wieder und dieses Mal ließ ich sie zu. Vor meinem inneren Auge spielte sich ein Film meiner eigener Erinnerungen.

Ich fühlte seine Hände, wie er mich packte und mich fesselte um sicher zu gehen, dass ich nicht floh, was ich auch so nicht getan hätte, denn dazu hatte ich zu große Angst. Ich erinnerte mich an die Schmerzen, die unglaublichen Schmerzen, dabei und danach. Wie ich hinterher unter seiner Dusche stand und versuchte alles von mir abzuwaschen. Die Erinnerungen, wo und wie er mich berührt und gewürgt hatte. Es ging nicht. Nach 20 Minuten duschen fühlte ich mich immer noch unglaublich dreckig, nachdem ich mich angezogen hatte, warf er mich aus der Wohnung. Als ich später zu Hause ankam, merkte ich, dass mir meine Handgelenke wehtaten. Ich sah, dass ich rote Striemen hatte von den Fesseln. Mir tat damals alles weh.

Der Film von Erinnerungen brach ab.

Im Spiegel sah ich, dass ich Tränen in den Augen hatte. Ich wollte meine eigenen Tränen nicht sehen. Ich ballte die Hand zu einer Faust und schlug in den Spiegel. Er zerbrach in hunderte Scherben. Ich sehe ins Waschbecken, sehe die Scherben an. An Einigen haftet etwas Blut, ich öffne meine Faust. Sehe mir meinen Handrücken an, meine Fingerknöchel sind blutig, ein paar Scherben stecken drin. Doch es tut nicht weh.

Spiegelscherben

Janny

Unglücklich sah sie in den Ganzkörperspiegel. Ihre langen Haare, noch nass vom Waschen, fielen ihr schwer auf den Rücken. Mit zitternden Fingern löste sie das feuchte Handtuch, das sie sich nach dem Duschen unter die Achseln geklemmt hatte. Als sie ihren nackten Körper sah, waren all die Sprüche wieder da: „Moppel!“; „Klopps!“; „Hey, guckt euch die mal an!“; „Ihh!“

Eine Träne lief ihr über die Wange. Im Licht des Deckenfluters wurden all ihre Problemzonen, jedes noch so kleine Polster hervorgehoben.

„Hässlich, fett…“ wiederholte sie leise die Sprüche ihrer Klassenkameraden. Dann sah sie die Träne auf ihrer Wange.

„NEIN!“ rief sie laut, holte aus und schlug mit der Faust in den Spiegel. Mit zusammen gezogenen Augenbrauen sah sie auf die Spiegelscherben und hob schließlich eine auf.
„Das bin ich nicht!“ versprach sie sich selbst.

Mein Spiegelbild

Janny

Oft werde ich gefragt, ob ich glücklich bin mit meinem bisherigen Leben. Naja, was soll ich darauf antworten.

Ich kann noch in den Spiegel gucken.

Klar, es lief bis jetzt nicht immer alles rosig, aber auch nicht so schlecht, dass ich irgendetwas bereuen müsste.

Wenn ich heute in den Spiegel sehe, ist da eine unabhängige junge Frau, die etwas zu rund geraten ist und ihr ABI nicht geschafft hat. Aber trotzdem denke ich positiv, schließlich komme ich jetzt wieder mit mir ins Reine. Ich habe keine Schlafstörungen mehr und auch so fühle ich mich wieder wohl.

Also falls mich noch jemand fragen will, ja, ich bin glücklich.